Thought Piece

Macht KI dumm? Im Gegenteil: Sie zeigt, wer denkt

Lesezeit: 6 Minuten

Ein Plädoyer für mehr Kulturoptimismus.

Mit dem Fortschritt ist es so eine Sache. Seit es ihn gibt, gibt es zwei Lager: die einen rufen „Wahnsinn, was alles möglich ist!“, die anderen „Das geht schief!“. Dabei scheint es keine Rolle zu spielen, in welcher Disziplin, Branche oder in welchem Lebensbereich sich der Fortschritt manifestiert. Stets ruft er Menschen auf den Plan, die eher die Gefahren als die Chancen erkennen.

Als der Taschenrechner kam, waren sie sich sicher: ab jetzt niemand wird mehr Kopfrechnen können. Als das Auto kam, befürchteten sie grassierenden Muskelschwund durch Bewegungslosigkeit. Zugegeben: beide Male lagen die Skeptiker nicht völlig falsch. Und trotzdem ist der Untergang des Abendlandes nicht eingetreten. Denn wir Menschen sind lernfähig.

Wie sehr man sich täuschen kann, zeigt diese kurze Liste:

  • 1878 wurde das Telefon erfunden, und der Chef-Ingenieur des British Post Office reagierte prompt: „Die Amerikaner brauchen das Telefon, aber wir nicht. Wir haben genug Telegrammboten.“

  • Die Einführung des Fernsehapparates kommentierte der Filmproduzent und Mitgründer von 20th Century Fox, Darryl F. Zanuck, mit den Worten: „Die Menschen werden es bald leid sein, jeden Abend auf eine Sperrholzkiste zu starren.“

  • Legendär auch die Aussage von Ken Olsen, Gründer der Digital Equipment Corporation (DEC), ihres Zeichens eine Computerfirma, zur Einführung von PCs: „Es gibt praktisch keinen Grund, warum jemand einen Computer zu Hause haben möchte.“

  • Und der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften Paul Krugman befand 1998 zu den Zukunftschancen des Internets: „Bis etwa 2005 wird klar werden, dass der Einfluss des Internets auf die Wirtschaft nicht größer war als der des Faxgeräts.“

Nun steht wieder eine dieser Zäsuren an. KI ist der neue Taschenrechner des Denkens. Sie erledigt, was uns früher Zeit, Geduld und Konzentration abverlangte: Sie fasst Texte zusammen, schreibt Strategiepapiere, plant Kampagnen. Sie denkt für uns – oder tut zumindest so. Und sofort schallt es einem, medial zigfach verstärkt, entgegen: KI macht dumm. Ist das so?

Vom Werkzeug zum Ersatz – wo Fortschritt kippt

Technologien beginnen fast immer harmlos. Erst sind sie Werkzeuge, dann werden sie unverzichtbar. Und am Ende vergessen wir, dass wir einmal laufen konnten. Das Versprechen von KI klingt tatsächlich erstmal nach Erlösung vom Übermaß an Arbeit, nach intellektueller Barrierefreiheit: Ideen fließen, Konzepte entstehen, ohne dass jemand schwitzt. So war es mit dem Navigationssystem, das uns zuverlässig ans Ziel bringt – und dabei still unsere Orientierung raubt. So war es mit dem Smartphone, das uns vernetzte – und ganz nebenbei unsere Aufmerksamkeit filetiert hat. Und so könnte es auch mit KI werden, wenn wir sie nicht als Werkzeug, sondern als Ersatz betrachten.

Bequemlichkeit ist eben selten der Beginn von Klugheit. Ein Punkt für die Skeptiker.

Schauen wir genauer hin, stellen wir fest, dass KI uns nicht nur Arbeit abnimmt, sondern auch den Widerstand und die Reibung. Die ist aber nötig, um besser zu werden. Die Mühe des Denkens, das Scheitern, die Irritation – all das verschwindet im Komfort ihrer Antworten. Wer alles delegiert, verliert irgendwann das Gefühl für die eigene Denkkraft. Und wer alles generieren lässt, wird irgendwann nicht mehr spüren, was eine wirklich gute Idee ausmacht. „Use it or lose it“ ist ein ehernes Gesetz, auch im Kopf.

Aber vielleicht ist es gar nicht die Technik, die uns verändert, sondern das, was wir aus ihr machen? Jede Innovation ist schließlich auch ein Spiegel ihrer Zeit und ihrer Nutzer. Der Taschenrechner wurde ja nicht zum Problem, weil er rechnen konnte, sondern weil manche aufhörten, es selbst zu tun. Und so ist auch KI nicht per se ein Feind der Intelligenz. Sie ist eine Bühne, auf der sich zeigt, wie wir mit Bequemlichkeit umgehen. Nutzen wir sie, um Neues zu verstehen, oder nur, um Altes schneller zu erledigen? 

Was die Forschung zeigt

Zu einer besseren Einordnung verhilft uns die Wissenschaft. Eine Studie des MIT zeigte, dass Menschen, die beim Schreiben ChatGPT nutzten, weniger neuronale Aktivität im Gehirn aufwiesen. Das klingt alarmierend – bis man genauer hinsieht: Die Probanden mussten weniger nachdenken, schlicht weil sie Unterstützung bekamen. Das ist keine Verblödung, sondern erstmal nur Entlastung.

Allerdings: Wer dauerhaft delegiert, trainiert auch weniger. Menschen und auch Unternehmen, die sich zu sehr auf Automatisierung verlassen, verlieren oft das, was sie stark gemacht hat: das kollektive Gedächtnis. Wenn also ein Team nur noch prüft, was „gut klingt“, statt zu verstehen, warum es funktioniert, verliert nach und nach seine Urteilskraft. Die Folge ist ein schleichender Kompetenzabbau: Organisationen werden effizienter, aber unmusikalisch. Die Forschung nennt das organizational deskilling.

Das Muster zeigt sich überall, wo Technologie Routinearbeit übernimmt. GPS-Nutzer finden sich schlechter ohne Karte zurecht. Menschen, die alles googeln, merken sich weniger. Psychologen sprechen von „digitaler Amnesie“. Wir speichern nicht mehr die Information, sondern den Weg dorthin.

Eine groß angelegte Harvard-Studie wirft ein differenzierendes Licht auf unser Thema: Mit ihr wurden die Auswirkungen von KI auf die Produktivität und Qualität von mehr als 750 Wissensarbeitern bei der Boston Consulting Group (BCG) untersucht. Ein Ergebnis: KI ist ein massiver Performance-Booster, solange sie innerhalb ihrer „technologischen Grenze“, d.h. für Aufgaben, die sich gut durch KI unterstützen oder vollständig bearbeiten lassen, eingesetzt wurde. Bei der Ideenfindung, dem Verfassen von Texten, Summarys, Storyboards, Social-Media-Strategien oder bei einfachen Analysen war sie in der Lage, die Qualität und Produktivität um bis zu 40 Prozent zu steigern. Zusätzlich kamen die BCG-Berater im Durchschnitt auf +12 Prozent an mehr erledigten Aufgaben sowie eine über 25 Prozent schnellere Bearbeitung.

Doch interessanterweise kippt der Effekt jenseits dieser Grenze: Wurde die KI auf die für KI ungeeignete Aufgaben, also z.B. auf kritische Kundenverhandlungen, Organisationsdesign, Change-Management oder politische Kommunikation angewendet, sank die Erfolgsquote um ca. 19 Prozentpunkte.

Als Begründung ermittelten die Forscher: Wer sich blind auf die Maschine verlässt, denkt weniger, urteilt schlechter und produziert Fehler mit größerer Überzeugungskraft. Der Fachbegriff hierfür: Overreliance.

Die Studienmacher haben in der Studie zwei unterschiedliche Nutzungstypen identifiziert: Die „Zentauren“, die gezielt an KI delegieren und die Kontrolle behalten, sowie die „Cyborgs“, die in enger Interaktion mit der KI geradezu verschmelzen. Beide Strategien führen zum Erfolg. Entscheidend ist, wie sicher die Wissensarbeiter an der unscharfen, zerklüfteten Grenze zwischen sinnvoller und riskanter Nutzung der KI navigieren können. Dabei ist die „Grenze“ kein technischer, sondern ein kognitiver Übergangspunkt. Solange Menschen Aufgaben in den Bereich delegieren, in dem KI zuverlässig arbeitet, entsteht Effizienz und Qualität. Wird diese Grenze überschritten – also KI für Urteils- oder Sinnfragen eingesetzt – schlägt der Effekt um und mündet in Überforderung und Fehlentscheidungen.

Marketing als Trainingsfeld des Denkens

Kaum ein Berufsfeld zeigt so deutlich, was passiert, wenn Technologie Routine ersetzt, wie das Marketing. KI kann problemlos Headlines schreiben, Claims verfeinern, Zielgruppen clustern, Mediabudgets optimieren. Das ist beeindruckend, aber auch gefährlich, wenn wir den Fortschritt zur Komfortzone machen. Menschen, die KI als Abkürzung begreifen, werden zwar effizienter, aber zugleich ärmer – ärmer an Neugier, an Eigenleistung, an Denkkraft. Menschen dagegen, die sie als Trainingspartner sehen, werden reicher: Sie gewinnen Geschwindigkeit, Klarheit, Reflexionsfähigkeit.

Das gilt auch für Organisationen. Kluge Organisationen verstehen KI als Sparringspartner. Sie nehmen KI-Outputs nicht als Wahrheit, sondern als Einladung zur Diskussion. Sie entwickeln Metriken, die nicht nur Effizienz messen, sondern Erkenntnis: Wie viel Neues entsteht? Wie oft ändert KI den Blickwinkel? Wie sehr schärft sie das Verständnis für die Marke, den Kunden, den Kontext?

Organisationen, die das begreifen, werden durch KI nicht dümmer, sondern klüger. Sie lernen schneller, weil sie verlernen dürfen. Sie machen Fehler früher, um später bessere Fragen zu stellen. Sie nutzen Technologie nicht, um das Denken abzugeben, sondern um es zu verfeinern. Wer sich im Dialog mit der KI anstrengt, wird präziser, schneller, analytischer. KI zwingt uns, zu erklären, was wir wirklich wollen. Das ist Arbeit – aber genau dort beginnt Lernen.

Damit wird KI zur Schulbank des 21. Jahrhunderts. Sie fordert uns auf, präziser zu denken, weil sie keine Zwischentöne kennt. Sie macht unsere Schwächen sichtbar – und genau das ist ihr größter Wert. Gerade im Marketing liegt darin eine große Chance.

Fazit: Die Haltung entscheidet

Die Skepsis gegenüber KI ist mindestens so alt wie das Schreiben selbst. In Platons Phaidros äußert sich der ägyptische König Thamus zweifelnd, als ihm das Schreiben als Mittel zur Erinnerung und Weisheit vorgestellt wird: „Diese Erfindung wird in den Seelen der Lernenden Vergesslichkeit erzeugen, weil sie das Gedächtnis vernachlässigen. Sie werden sich auf das Geschriebene verlassen und sich nicht mehr aus sich selbst erinnern.“

Annähernd 2.400 Jahre später vermeldete die Redaktion des New Yorker Atlantic Kulturkritisches unter der Headline: „Is Google making us stupid?“

Dass wir mit KI das Denken verlernen, ist eher eine Schlagzeile als ein echter Befund. KI stumpft nicht ab. Sie verschiebt, wo und wie wir denken. Sie kann Reflexion verkümmern lassen oder sie freisetzen. Ob sie den Muskel schwächt oder stärkt, hängt davon ab, ob wir ihn weiter benutzen.

Fortschritt war nie alleine eine Frage der Technik, sondern immer auch von Kultur und Haltung. Wer der KI misstraut, wird sie meiden – und verliert damit Anschluss. Wer ihr blind vertraut, verliert die Kontrolle. Dazwischen liegt der produktive Raum: die bewusste Zusammenarbeit von Mensch und Maschine.

Zu sagen: Die Dummen werden dümmer, die Klugen klüger, wäre zu einfach. Klug ist, wer die Grenze kennt, an der KI noch denkt – und ab der wir wieder selbst denken müssen.

Die eigentliche Herausforderung liegt also nicht darin, dass KI uns dumm macht. Sondern dass wir vergessen, wie spannend es ist, klug zu bleiben.

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Tobias Kirchhofer

Managing Partner